Warum wird Elbing nicht so wieder aufgebaut wie es einmal war?
(Günter Mauter)
Wenn Besucher unserer Heimatstadt Elbing alte Bilder der Altstadt betrachten, werden sie bei der neuen Bebauung nicht viele Anhaltspunkte aus alter Zeit finden. Man wundert sich über das Bild der „neuen“ Altstadt einerseits, bewundert aber doch andererseits die Einfälle polnischer Architekten, die diese neue Altstadt nach langem Nachdenken so trefflich geplant haben.
Eine Altstadt wieder aufzubauen stellt man sich so wie in Danzig oder Warschau vor, also möglichst 1:1 zum vorherigen Stadtbild oder nach Plänen aus einer ganz bestimmten Zeit.
Mag einem auch das Herz geblutet haben angesichts der fast völlig zerstörten Altstadt, aus der praktisch nur noch das alte Markttor und die wieder aufgebaute Nikolaikirche herausragten. Und doch ist es schön, dass die neue Bebauung aus verschiedenen Gründen nicht direkt in der Nachkriegszeit erfolgt ist. Da wurden Altstädte mit „modernen Häusern“, die keine Erinnerung an frühere Zeiten mehr aufkommen ließen, verschandelt.
Betrachten wir einmal die Gründe, die zu der jetzigen Bebauung geführt haben und bilden uns dann ein Urteil:
Die Elbinger Altstadt wurde zwischen dem 23. Januar und dem 8. Februar 1945 zu 96% durch Kriegseinwirkungen verschiedener Art zerstört. Das Ausmass der Zerstörungen stellte auch die neuen polnischen Besitzer der Stadt vor große Probleme.
Während in Warschau, Danzig, Breslau oder Posen umfangreiche Rekonstruktionsarbeiten durchgeführt wurden, standen in Elbing bis Ende der 50er Jahre noch in der Altstadt die Ruinen. Wohnraum wurde außerhalb Elbings mit großen Plattenbauten geschaffen, wie es überall – auch im Westen – üblich wurde, um die vielen Menschen unterzubringen.
Da für die neuen polnischen Bewohner unserer Stadt überhaupt kein historisches Interesse an der Bebauung (im Gegensatz zu Warschau) bestand, wurden auch die Ruinen eingerissen, die noch hätten gerettet werden können. Grundstücke wurden eingeebnet und es wurde Rasen ausgesät. Übrig blieben nur ein paar zu Ruinen gewordene Denkmale wie die Nikolaikirche, die Marienkirche, das Markttor aus dem 12. Jahrhundert und das Hl.-Geist-Hospital, um einige zu nennen. Auch einige wenige Häuser, die die Kirche nutzte.
Natürlich hatte auch Polen einen Bebauungsplan für die Elbinger Altstadt in der Schublade: Hochhäuser, Wohnblöcke und Handelshäuser…
Dankbar kann man darüber sein, dass für solche Pläne die Mittel fehlten. Aus der Not heraus entstand eine Grünanlage mit Kirche und Straßenresten.
Der Bau des dringend benötigten Wohnraums erfolgte außerhalb des Stadtkerns.
Die Lösung der Innenstadtfrage konnte erst einmal auf Eis gelegt werden.
So wurden die Bebauungsarbeiten erst im Jahre 1970 begonnen, was wohl teilweise auch daran gelegen haben mag, dass viele sich nicht sicher waren, ob das unter polnischer Verwaltung stehende Gebiet überhaupt polnisch bleiben würde. Nach 1970 (Willy Brandt) war man sich nun sicher und begann zielstrebig nach einem besonderen Plan den Aufbau! Zuerst wurde ein Forschungsprogramm ausgeführt, das archäologische, baugeschichtliche, historische und andere Forschungen umfasste. Unter Aufsicht der Denkmalspflege wurden in vorher abgesteckten Sektionen die mittelalterlichen Grundmauern freigelegt und untersucht. So ging es auch darum festzustellen, ob es in der Hansezeit vergleichbare architektonische Merkmale mit den Hansestädten Bergen oder Nowgorod gab. Ziel wurde es nun, die als Keller erhalten gebliebenen Grundmauern als Kulturgüter des Stadtplans aus dem 13. Jahrhundert zu erhalten, um durch eine ausgewogenen Gestaltung der Stadtsilhouette zur Nachbildung alter städtischer Innenräume zu kommen.
Historische Gegebenheiten legten die Wiederbelebung der Altstadt als „Zentrum“ nahe. Gedacht war auch an eine administrative und kulturelle Belebung. Natürlich sollte auch in der Altstadt wieder in den oberen Etagen Wohnraum entstehen. So wurde beschlossen, eine möglichst getreue Nachbildung des „horizontalen“ Planes der Altstadt, bezogen auf das alte Straßennetz, den Verlauf der Grundstücke und die Hausentwürfe durchzuführen. Für die genaue Nachbildung aller Elemente des alten Stadtplans wurden zur Sicherheit die alten Fundamente verwendet, die das Gewicht der neuen Gebäude zu tragen hatten. Neben dem Erreichen des städtebaulichen Ziels bildete diese Maßnahme ebenso dem Schutz der mittelalterlichen Mauern, die ja die einzigen Relikte jener Zeit sind, in der die Stadt errichtet wurde. Die Rekonstruktion der alten Lage erlaubte es gleichzeitig, die geforderte Feinstruktur der neuen Bebauung zu erreichen, die doch so charakteristisch für die traditionelle Architektur historischer Städte ist.
Ein überaus wichtiges Element ist ein Plan um die beiden Dimensionen Länge und Breite darzustellen. Wesentlich ist natürlich auch die Höhe. Auf dieser Basis entstanden nun die Zeichnungen und Pläne. Zum Glück blieben einige wichtige dominierende Bauten erhalten, die das Gesicht der Elbinger Altstadt seit Jahrhunderten prägen: Die beiden Kirchen St. Nikolai, St. Marien und das Markttor. Diese waren schon „immer“ baulich begleitet von Bürger- und Geschäftshäusern. Um eine Silhouette alter Bebauung zu erreichen, garantierte nur der Bau ähnlicher oder gleicher Häuser das Entstehen einer altstädtischen Bebauung in den historischen Ausmaßen.
Das Bürgerhaus auf den freigelegten mittelalterlichen Fundamenten war also die Grundform der neuen Bebauung. Erst das endgültige Ergebnis würde auch die angewandte Stilistik der neuen Architektur zeigen.
Die Bildung des Modells einer neuen Altstadt wurde von der Überzeugung begleitet, dass eine der Bedingungen für eine richtige Wiederbelebung der Altstadt die „harmonische Gegenwärtigkeit“ zur altertümlichen Umgebung ist.
Den Planern wurde vorgegeben, dass sie sich bei ihren Planungen nicht von der Rekonstruktion eines Objekts leiten lassen, sondern sich bei Planung der Hausfassaden des Repertoires historischer Details bedienen könnten, - doch aber nicht so, dass der Eindruck entstünde, das Haus sei rekonstruiert. Man hatte also auch die Möglichkeit, sich begrenzt der Postmoderne zu bedienen. Die Häuser sollten die Merkmale ihrer Zeit und ihres Ortes tragen und gleichzeitig auch allgemeingültige Vorzüge besitzen. So kam die Bauhöhe etwa der ursprünglichen Höhe nahe. Vorgegeben waren auch die Giebelständigkeit, die steilen Dächer und die Verwendung traditioneller Materialien in der Außenverkleidung.
Bei einer Planung von 600 (!) Häusern waren nur ca. 2% (etwa ein Dutzend) als Rekonstruktion vorgesehen. Mit der nun geplanten geringfügigen Rekonstruktion sollten keineswegs neue Denkmale entstehen. Durch die Mischung postmoderner Architektur und der geringfügigen Wiederentstehung einiger Häuser sollte eine „ästhetische Spannung“ entstehen. Die zur Rekonstruktion ausgewählten Häuser sollten ohnehin von hohem ästhetischem, architektonischem und geschichtlichem Wert sein und gute Proportionen aufweisen.
Für diese neue Bauweise in Elbing gibt es eigentlich keinen entsprechenden Begriff in der Denkmalspflege. Dieses Konzept ist praktisch beispiellos. Da es sich weder um ein Modell noch um eine verfälschte Nachahmung handelt kann allerdings gesagt werden, dass es mit der denkmalspflegerischen Lehre übereinstimmt die fordert: „Die Denkmalsgebiete müssen Gegenstand besonderer Pflege sein, damit ihre Integrität, ihre funktionelle Erneuerung, ihre Anpassung und Wiederbelebung gesichert werden können.“
Elbings Altstadt ist auf Grund ihrer reichen politischen und wirtschaftlichen Geschichte, aber auch ihrer architektonischen Bedeutung im östlichen Raum von hohem geschichtlichem Wert.
Es sind neue, bisher nicht praktizierte Grundlagen die auf die Wiedergabe des städtischen Plans in seinen Dimensionen und in moderner Bebauung die ehemalige „Form“ der Stadt wiedergeben sollen. Die Arbeiten in der Altstadt sind für viele Fachleute ein Grund, um über den Begriff „Authentizität“ zu diskutieren. Die neue Methode des Schutzes eines geschichtlichen Stadtkomplexes verdient es, mit einem neuen Terminus belegt zu werden. Hier bot sich ein Begriff aus der Literaturwissenschaft, der Begriff „Retroversion“ an, der den Sinn der Arbeiten in Elbing am besten wiederzugeben scheint. Dieser Terminus stammt aus dem lateinischen „retroversus“ – also „umgekehrt nach hinten“, und bedeutet die Übersetzung des Textes einer Übersetzung wieder in die Sprache des Originals. Bezogen auf die Bebauung der Elbinger Altstadt kann gefolgert werden, dass das ganze denkmalpflegerische Programm in der Position eine „Drehung nach hinten“ gebildet wurde. Und zwar im Bereich der intensiven Forschungsarbeiten, in der Festlegung der Funktion des Zentrums, bei der Festlegung dreier Zonen (Länge, Breite, Höhe), wie auch bei der Erhaltung der bestehenden historischen Substanz in Verbindung mit einer neuen Architektur.
Da der Begriff „Retroversion“ gewählt wurde musste geklärt werden, ob mit dem Begriff der „Übersetzung“ auch eine „ungeformte Stadt“ umschrieben werden kann, die sich in einem Zustand nach den Kriegszerstörungen befand: Leer, umgewandelt in Grünanlagen mit ein paar einsamen Architekturdenkmalen. Mit der Sprache des Originals sollen aber jene Kulturgüter benannt werden, die auf dem Gebiet der Altstadt in ihrer Urform erhalten geblieben waren., seien es die Elemente des geschichtlichen Raums, ihrer historischen Bauten oder ihrer Überbleibsel; aber auch das gegenwärtig Geschaffene gestützt auf Altes und auf unser Wissen. So soll alles zusammen eine Symbiose werden zwischen dem altstädtischen Raum, den traditionellen Merkmalen, der Raumgestaltung, der Stadtsilhouette, den Proportionen und der Stilistik dieser alten Stadt. Es ist eine Schöpfung als ein echtes Kunstwerk, das mit den denkmalpflegerischen Methoden übereinstimmt.
Die „Elbinger Methode“ wird auch Bedeutung für andere deutsche, jetzt polnische Städte haben, soweit es dazu nicht schon zu spät geworden ist. Es wird sich immer um eine individuelle Maßnahme handeln und von der künftigen Funktion der Gebäude abhängen.
Fazit: Das endgültige Ziel der Retroversion ist der Wiedererhalt einer Altstadt in der die jetzigen Bewohner keine emotionalen (patriotischen) Motive haben wie beim Wiederaufbau von Warschau, Danzig und Posen. Das Engagement für die Elbinger Altstadt hat einen lokalen Charakter und soziologische Gründe.
Die polnische Bevölkerung hat einen Hang zum Eigentum, - zum eigenen Haus – zumindest aber zur Eigentumswohnung.
So kann man sicher sein, dass die heutigen Bewohner unserer Heimatstadt sich ebenso mit Elbing verbunden fühlen und identifizieren, wie wir es, die ehemaligen Bewohner immer noch sind.
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